Russland – Ein musikalischer Rückblick von Ingrid Paul
Als es mich zu Beginn der 2000er-Jahre zum ersten Mal auf Konzertreise nach Russland führte, war mein erster Eindruck: Wow, welch eine Kultur, welch eine Pracht! Kein Wunder: ich war in Sankt Petersburg gelandet! Ich durfte im Hotel „Roter Oktober“ residieren, in der Philharmonie proben, und meine Konzert-„Locations“ waren keine geringeren als die Philharmonie und die Heremitage St.Petersburg. Ich war sofort verliebt in diese Stadt und hoffte, mehr über Russland zu erfahren.
Nein, damals interessierte es mich eigentlich nicht, wer dort gerade Präsident war, denn für mich zählte die Liebe dieser Menschen zur Musik, zur Kunst und zum Leben. Konzertkarten beispielsweise waren so preisgünstig, dass auch ärmeres Publikum – gekleidet in alten Straßenklamotten und mit staubigen, abgetretenen Schuhen – in den ersten Reihen Platz fand und direkt nach der Arbeit hingebungsvoll der Musik lauschen konnten.
Auf den Behörden allerdings ging es gnadenlos streng zu. Mit finsteren Minen und im Befehlshaberton wurden mein Reisepass, Visum und Gepäck inspiziert, sodass ich mich ein wenig wie eine Kriminelle fühlte – vor so viel autoritärer Präsenz. Aber all das war schnell vergessen, denn die Herzlichkeit meiner musikalischen Kollegen und ihrer Familien waren erfrischend und ansteckend. Ich schloss neue Freundschaften, die bis heute noch erhalten sind, trotz der schlimmen Situation, in der wir uns zurzeit befinden.
Mit den Jahren durfte ich Russland vier Mal bereisen, um dort Konzerte zu spielen. Mit der Transsibirischen Eisenbahn bin ich von Chelyabinsk (hinterm Ural) quer bis nach Moskau durch die wunderschöne, tief verschneite und unendlich weite Landschaft im russischen Winter bei Minus 26 Grad Celsius gezuckelt. Im Gepäck hatte ich unter anderem meinen Schlafanzug, Zahnbürste (Pantoffeln und Handtücher wurden vom Zugpersonal verteilt), meine Blockflöten und eine große Flasche Wodka, die mir meine Freunde und Kollegen am Bahnsteig in Chelyabinsk mitgegeben haben (weil man das dort halt so macht).
Ein paar Jahre später verschlug es mich – ebenfalls in einem russischen Winter – nach Samara, eine Stadt an der Wolga. Dort schloss ich Freundschaft mit Ludmilla, der Organistin an der hiesigen Philharmonie. Wir gestalteten das Jubiläumskonzert für die auf der Konzertbühne eingebaute Orgel des deutschen Orgelbauers Rudolf von Beckerath, auf die die russischen Musiker sehr stolz sind. Neben der fruchtbaren Probearbeit bin ich in meiner knappen Freizeit auf der komplett vereisten, dick mit Schnee bedeckten Wolga spazieren gegangen und konnte beobachten, wie ein paar Leute, eingemummelt in Winterjacken, mit ihren Spitzhacken ein Loch in das Eis schlugen, ihre Kleidung ablegten und splitterfasernackt in das eisige Wasser abtauchten. Ich war fasziniert und auch ein bisschen neidisch ob so viel Mutes. Ludmilla klärte mich später auf, dass das „normal“ sei und von vielen Leuten so praktiziert werde, wenn sie gerade Pause im Büro haben.
Unser Konzert war ein Fest! Ein Fernsehteam hatte mich vor unserem Auftritt interviewt, und ich wurde simultan auf Russisch übersetzt, was mich belustigt und mein Lampenfieber dadurch reduziert hatte. Nach dem Konzert wurde aufgetischt: Kaviar, Lachs, Blinis, Krimsekt und süße Leckereien. Beseelt von der fröhlichen Stimmung der „russischen Seele“ dachte ich: Wie schön, die Russen können mindestens so gut feiern, trinken und schlemmen wie wir Saarländer…
Den Namen „Putin“ hörte ich zum ersten Mal, als ich zu einem Konzert in Chelyabinsk eingeladen war: Der Konzertsaal war eine ehemalige orthodoxe Kirche mit einer schönen Orgel und der Saal war überwiegend aus Holz, was für eine tolle Akustik sorgte. Die Musiker erzählten mir, dass Putin diesen schönen Konzertsaal schließen und wieder als Kirche nutzen wolle. Die Enttäuschung der Kulturveranstalter war natürlich groß.
Es hatte mich freudig überrascht, dass in diesem Konzert sehr viele Kinder im Publikum waren. Sie kamen direkt nach dem Konzert mit ihren Programmheften zu mir und wollten ein Autogramm, denn Blockflöte war für sie eher ein Kinderinstrument und nicht für die Bühne gedacht. Ich erzählte ihnen, dass man Blockflöte in unseren Musikschulen in Deutschland richtig professionell lernen kann, und sie staunten mich mit ihren großen Augen an als wäre ich ein Popstar.
Mein letztes Konzert in Russland war dann in einer großen Kathedrale in Moskau, wo ich mich oben auf der Empore mit meinen kleinen Blockflöten zuerst etwas einsam und verloren fühlte. Aber umso perplexer war ich, als ich vorne zum Altar hinunter schaute: Eine riesengroße Leinwand war aufgebaut und ich konnte mich darauf in überdimensionaler Größe erblicken! Nachdem ich den ersten Schrecken überwunden hatte, konnte ich mich dann auf die Musik konzentrieren...
In abenteuerlicher Erinnerung ist mir die Autofahrt zum Flughafen Domodedovo geblieben, als mein Chauffeur mit knatterndem Auspuff und halsbrecherischen Überholmanövern in der Rushhour hupend durch die holprigen Straßen raste, weil die Zeit zum Abflug knapp war.
Wenn ich jetzt, im Jahr 2022, an all diese wunderbaren und aufregenden Zeiten in Russland zurückdenke, stimmt es mich traurig, dass dieses musikalische, schöne und große Land einen so brutalen Krieg begonnen hat. Ob ich jemals wieder ein Konzert dort werde geben können, bleibt ungewiss. Aber mit meinen russischen Freunden stehe ich weiterhin in Kontakt, und wir hoffen gemeinsam auf baldigen Frieden.